von Reaver
Die enge Schrift des Briefes war selbst im hellen Schein der Sonne nur schwer zu entziffern. Die Tinte war im Regen verlaufen, das Pergament voller schwarzer Flecken. Es war Albus‘ zittrige Hand, die, wie es schien äußerst unsanft mit der Feder Reihe um Reihe den Brief mit Wörtern gefüllt hatte. Ginny hielt die Botschaft ihres Sohnes wie einen Schatz in den Händen, während sie zusammen mit Harry eilig die Zeilen las.
Mum, Dad,
warum hat mich der sprechende Hut nur nach Slytherin gesteckt? James hatte doch Recht, dass ich in dieses Haus gehöre, aber ich will das nicht. Wenigstens hat er mir seine Eule geliehen, um euch dieses Brief zu schicken. Hier unten ist alles kalt und unheimlich, gar nicht so, wie James vom Turm der Gryffindors gesprochen hat. Viele gucken mich komisch an, weil alle dachten, dass ein Potter auf jeden Fall in das Haus kommt, in dem du auch warst Dad. Aber du hast doch immer gesagt, ich sei dir so ähnlich. Warum bin ich dann nicht in Gryffindor. Wenigstens mein Bruder hat mich nicht ausgelacht.
Könnt ihr Direktor Dumbledore nicht sagen, dass ich viel lieber bei James wäre? Der alte Slughorn meinte nur, dass es ihn Stolz mache einen Potter in seinem Haus zu haben. Ich mag ihn nicht. Er ist so fett, dass sein langer weißer Bart darin fast verschwindet. Bewegen kann er sich auch nicht mehr richtig. Eigentlich will ich jetzt nur noch nach Hause. Kann ich nach Hause Mum und Dad?
Hab euch lieb,
Albus
Ginny hielt den Brief noch lange in der Hand, obwohl sie die Zeilen gar nicht mehr betrachtete, sondern blickte mit leeren Augen, in denen sich Tränen sammelten ins Nichts. Ihre Hände begannen leicht zu zittern. Die Bewegung übertrug sich auf das Pergament und die Buchstaben begannen wild zu tanzen.
Harry legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran. Mit der anderen Hand löste er ihre verkrampften Finger von dem Brief.
„Er ist stark.“, flüsterte er in ihr Ohr und küsste sie sanft auf die Stirn. „Und das wichtigste ist, dass er in Sicherheit ist.“
„Aber Slytherin!“, schluchzte Ginny und ergriff seine Hand. Ihre Haut war heiß, fast fiebrig. Eine einzelne Träne rann ihre Wange hinunter und benetzte leicht ihren Pullover. „Ich will, dass er glücklich ist, so wie James.“
„Das will ich doch auch.“, hauchte Harry in die Stille, die den Worten seiner Frau gefolgt war. Nur Lilys leise, regelmäßige Atemzüge neben ihnen auf dem Sofa waren zu hören. „Ich vermag mir gar nicht vorzustellen, wie er sich um Moment fühlen mag.“ Er verspürte einen Kloß im Hals bei diesen Worten. Es musste seinem Sohn wie Verrat vorkommen, dass er ein Slytherin geworden war. Ein Mitglied des Hauses, aus dem Voldemorts Todesser entsprungen waren. „Aber ich glaube es existieren Dinge zwischen Himmel und Erde, die selbst die ganz Weisen nicht erklären können. Nur Zeichen künden von ihnen, bis du sie endlich begreifen kannst und sie zu verstehen beginnst. Vielleicht ist es kein Zufall, dass einer unserer Söhne in Slytherin ist. Er mag die Brücke sein, die uns immer gefehlt hat.“
Ginny blickte ihm in die leuchtenden grünen Augen. „Ich hoffe für uns alle, dass du Recht hast.“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Noch immer glitzerte Feuchtigkeit in ihren rehbraunen Augen und voller Liebe betrachtete sie den Brief ihres Sohnes. Harry strich ihr liebevoll über die Wange und wischte eine Träne fort, während eine andere auf das Pergament fiel und die schwarze Tinte verwischte. Dunkle Schlieren ließen die Worte verschwimmen, bevor das dicke Papier sie aufsog.
„Erinnerst du dich noch an unsere ersten Schultage, an all das Neue und Große, was wir nicht begreifen konnten? Wir waren von Hogwarts überwältigt und hatten auch Angst, Angst vor dem Ungewissen. Albus verspürt sicher das gleiche, noch verstärkt von dem Wissen, dass viele Schwarzmagier aus seinem Haus kamen.“, sprach Harry leise. Einen Moment schwieg er und blickte seine Frau an, die langsam nickte. „Es wird ihm bald besser gehen, wenn er lernt richtig zu zaubern und neue Freunde findet.“
„Ich weiß nicht. Ich will ihn am liebsten sofort wieder in meine Arme schließen.“, meinte Ginny, stand auf und ging rastlos umher, die Arme dicht um ihren Körper geschlungen. „Alles ist so...“ Sie suchte nach Worten. „Es ist einfach nicht Richtig! Voldemort ist wieder da, sein Grab ist leer. Kingsley erzählt uns von einem verzauberten Muggel und unser Sohn landet in Slytherin!“ Ihre Stimme hatte sich immer weiter gehoben, bis sie fast geschrien hatte. Hinter der Lehne des Sofas tauchte ein kleines, verschlafenes Gesicht auf.
Harry hob Lily auf seinen Schoß. Ginny fuhr sich mit ihren langen, schlanken Händen aufgeregt durch das von der Sonne entflammte Haar. Sie sah schuldbewusst zu ihrer Tochter hinüber, die verwirrt erst ihren Vater, dann ihre Mutter anblickte.
„Ich muss... Ich weiß einfach nicht was ich tun soll, Harry.“, sprach Ginny mit erschöpfter Stimme. „Von einem Tag auf den anderen ist alles, wofür wir gekämpft haben wieder in Gefahr!“
Lily schnappte kurz nach Luft, während die großen Kinderaugen dunkel vor Angst wurden. Beruhigend strich Harry ihr über das Haar und küsste sie auf die Wange.
„Warum sind wir in Gefahr, Mama?“, flüsterte sie und blickte sich langsam, beinahe furchtsam im Zimmer um.
Ginny holte tief Luft, als suche sie nach Worten, um die alte Geschichte einem kleinen Mädchen erklären zu können. Ihre Lippen zitterten, aber es kein Ton entsprang ihrer Kehle. Die Angst, unterdrückt in den letzten Tagen, als sie gezwungen war stark und unbeugsam zu erscheinen, tobte nun wie eine riesige Welle über sie hinweg. Die rehbraunen Augen wurden so dunkel wie die ihrer Tochter. Mit Lilys Frage kehrten alle furchtbaren Bilder aus der Vergangenheit zurück.
„Hey Schatz.“, sprang Harry ein. „Wir haben dir doch die Geschichten erzählt, von den Abenteuern, die deine Mum und ich, Hermine und Ron und all die anderen, lange bevor du auf die Welt kamst, erlebt haben.“ Seine Tochter nickte zaghaft und blickte ihn erwartungsvoll an. „Es sieht so aus, als ob dieses Abenteuer weiter geht.“
„Ja, aber ihr habt den bösen Mann doch besiegt!“, rief Lily aus.
„Ja, das haben wir auch, aber die Magie ist mächtig. Irgendwie ist er zurückgekehrt, nach all den Jahren.“, fuhr Harry mit leiser Stimme fort. „Deswegen haben wir auch den alten Orden des Phönix wieder um uns versammelt.“
„Müsst ihr wieder kämpfen? Gibt es Krieg?“, fragte das kleine Mädchen kleinlaut.
Ginny biss sich auf die Unterlippe, dann nahm sie ihre Tochter auf den Arm. „Wir wissen es nicht. Aber dir droht keine Gefahr. Bei uns wirst du immer in Sicherheit sein.“ Lily legte die Arme um den Hals ihrer Mutter und drückte sie. Harry sah seine Frau an, die ihm über die Schulter ihrer Tochter in die Augen blickte. Er war froh, dass das kleine Mädchen auf ihrem Arm den Ausdruck in ihren Zügen nicht sehen konnte. Zweifel, Furcht und das Wissen darum ihre eigene Tochter belogen zu haben.
Harry schüttelte langsam den Kopf, in trüben Gedanken versunken. Niemand war mehr in Sicherheit, nicht in seiner Nähe. Ginny wusste es, er und es würde der Zeitpunkt kommen, das auch Lily es spüren würde. Ein Leben in ständiger Angst, Ungewissheit und dem Wissen, dass man stetig, unaufhaltsam auf einen bodenlosen Abgrund zusteuerte. Er kannte diese Gefühle. Vor neunzehn Jahren hatten sie sich in seine Seele gekrallt. Fast vergessen waren diese Tage gewesen, der Vorabend der Schlacht von Hogwarts, in der so viele Freunde für ihn in den Tod gegangen waren. Sie hatten ihm vertraut, ihr eigenes Leben eingesetzt, um ihm Zeit zu verschaffen. So weit durfte es nicht noch einmal kommen.
Er sprang auf, die Hände zu Fäusten geballt. Nur wie konnte er es verhindern? Es gab keinen Anhaltspunkt, keine Spur, außer einem leeren Grab! Harry hatte das Bedürfnis zu schreien, seine Wut hinaus zu brüllen. Es war einfach nicht gerecht, das die Zeit des Friedens so kurz bemessen war, nicht nachdem sie ihn sich so teuer erkauft hatten.
Mit schnellen Schritten war er an der Tür zum Garten uns riss sie auf. Die kühle Morgenluft begrüßte ihn mit einer frischen Brise, die über die Haut seines Gesichts streichelte, zusammen mit den Sonnenstrahlen des jungen Tages, die noch zu wenig Kraft besaßen, um wirklich zu wärmen. Gierig sog Harry seine Lungen voller Luft. Es kam ihm vor, als entstiege er einem Grab und nicht seinem vertrauen Heim, einem Ort, an dem sein Herz weilte, für alle Zeit. Die von Feuchtigkeit geschwärzten entlaubten Zweige der Bäume bildeten über ihm ein finsteres Gewölbe, durchzogen von seidigen Nebenschwaden. Sie schienen mit dürren knochigen Fingern nach ihm zu greifen. Unter seinen Füssen raschelte das tote Laub, braun und modrig auf dem mit Regen getränkten Rasen, glänzend in der Morgensonne.
„Ich werde dich finden, egal wo du bist!“, zischte Harry sein dunkles Versprechen an Tom Riddle in den Wind, während er rastlos durch den Garten schritt. Die kurze Böe riss ihm die Worte von den Lippen und trug sie schnell über die abstrakte Dächerlandschaft von London. Nur wo sollte er seine Suche beginnen, ohne Wissen, was die nächsten Schritte des Dunklen Lords und seiner Handlanger waren. Was plante er?
Vor seinem inneren Auge erstanden die Bilder von dem Friedhof. Die Gruppe verblichener Zauberer, ins Leben zurückgeholt als bloße Schemen, ohne Willen, Schatten ihrer Selbst. Voldemort selbst kaum mehr als ein Geist. War er das? Ein Geist?
Harry schüttelte den Kopf. Nein! Er hatte ihn gespürt, als stände er neben ihm, als befände er sich im Kopf seines Feindes, fühlte, was er fühlte, sah was er erblickte. Hilflosigkeit machte sich in ihm breit. Er kam sich vor, als seien ihm die Hände gebunden. Wahrscheinlich waren sie das auch.
„Alter, was tust du da?“, erklang Rons Stimme hinter ihm.
Harry schrak hoch. Er stand hinten an der Gartenmauer, die Stirn mit der Narbe an die rauhe Borke eines Baumes gelehnt. Die dunkelgrünen Blätter des Efeus schimmerten, benetzt von Tau wie aus Kristall geschlagen.
„Ich weiß es nicht.“, gestand er zögerlich.
„Ich kanns dir sagen, Mann.“, sprach Ron, die Hände in den Hosentaschen versenkt. Sein Atem trieb in silbrigen Schwaden durch den Garten, bevor er mit dem dünnen Morgennebel untrennbar verschmolz. „Du machst dich wegen der Sache selbst Wahnsinnig! Die ganze alte Geschichte kommt wieder hoch, als müsstest du dich übergeben, hm?“
Harry nickte schwach.
„Ja, was meinst du wie es Hermine und mir ging, als du uns diese Nachricht gebracht hast?“, fuhr der große, rothaarige Mann fort. „Aber du musst einen kühlen Kopf bewahren. Im Moment wissen wir noch zu wenig, um etwas zu unternehmen. Sei besonnen.“
„Du redest von abwarten und Besonnenheit?“, fragte Harry. „Wer wollte den Malfoy immer direkt eine verpassen?“ Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein Grinsen ab.
„Der Kerl war ein Arschloch und er hätte es verdient.“, knurrte Ron mit funkelnden Augen.
„Das bestreite ich nicht.“, meinte Harry und winkte ab. „Hermine hat echt einen guten Einfluss auf dich, oder stammen diese Worte von ihr.“
Ron murmelte etwas undeutbares. Ein säuerlicher Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit, dann nickte er.
„Wusste ichs doch!“, jubelte Harry triumphierend. „Du hast nach all den Jahren immer noch die Kraft dich einer Bekehrung durch sie erfolgreich zu verweigern.“
„Klar Mann.“, erwiderte Ron. „So leicht gebe ich nicht klein bei. Achja übrigens. Die Parklücke vor eurem Haus ist echt was eng.“
„Ihr seid mit dem Auto hier?“, wollte Harry wissen. Das Lächeln verließ sein Gesicht, als er an die Fahrkünste seines alten Freundes dachte. „Vor dem Haus kann man glatt ein Flugzeug landen!“
Sein Gegenüber zuckte nur die Achseln, rieb sich demonstrativ die Hände und machte kehrt, um zügigen Schrittes ins Haus zurückzukehren. Die Tür zum Garten stand noch sperrangelweit offen.
Unsicher folgte Harry ihm, aber wenigstens hatte das Gespräch mit Ron seine dunklen Gedanken ein Stück weit zerstreut.
Ginnys und Hermines Stimmen trieben aus der Küche zu ihm herüber, als er wieder ins Wohnzimmer trat. Die Temperatur war um eine Grad gefallen. Schnell schloss er diesmal hinter sich die Tür. Erst jetzt spürte er, wie kalt ihm gewesen war. Die Haut an seinen Finger war gerötet vor Kälte.
„Harry!“, ertönte ein Ruf, dann verdeckte Hermines buschiges, braunes Haar sein Blickfeld. Er erwiderte die Umarmung, spürte aber, das hinter dem freudigen Klang ihrer Stimme etwas lauerte, das sich einen Weg durch jede Faser ihres Körpers gebahnt hatte. Es strafte den unbeschwerten Ton ihrer Worte Lügen.
„Harry, wir haben das mit dem Premierminister gehört...“, sprudelte es aus ihr heraus, als sie sich wieder getrennt hatten.
„Schatz!“, unterbrach Ron sie. „Ruhig.“
Hermine lächelte verkniffen und verdrehte die Augen. „Schon gut.“ Sie holte tief Luft. „Nach der Beschreibung her, wie das Pergament aussah, dass die Sekretärin des Premierministers gesehen hat, muss es eine alte Urkunde sein, wie sie im Mittelalter üblich waren.“
„Glaubt sie.“, gab Ron zum Besten. Seine Frau warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Glaube ich ja, weil ich die Frau besucht habe!“, zischte Hermine. „Salazar Slytherin war ein Fürst und man muss bedanken, dass unsere magische Welt und die der Muggel damals, vor über 1000 Jahren noch nicht so strikt getrennt waren wie es heute der Fall ist.“
„Hat Salazar denn das Haus Slytherin gegründet?“, wollte Lily wissen, die neben Ginny stand und sich an der Hand ihrer Mutter festhielt.
„Ja, Liebes.“, antwortete Harry Frau und streichelte ihrer Tochter über den Kopf.
„Ich mag ihn nicht.“, maulte sie.
„Damals auch keiner.“, warf Ron ein, bevor Hermine fortfuhr:
„Vielleicht ist es eine Urkunde über den Besitz eines Landstriches, eines Anwesens oder etwas ähnliches.“
„Was uns aber wieder zu der Frage zurückführt, wieso ein Zauberer damit zum Premierminister der Muggel geht.“, erwiderte Harry, während ihm die schwebende Teekanne die Tasse nachfüllte. Ron nickte bestätigend.
„Vielleicht befindet sich ja gegenwärtig das Objekt von Voldemorts Begierde in Besitz eines Muggels.“, antwortete Hermine achselzuckend.
Ginny runzelte die Stirn. „Das würde einen Magier, der sich mit dem Dunklen Lord einlässt nicht aufhalten.
Er würde sich nehmen was er braucht.“
Lily bekam plötzlich glühende Augen und plapperte drauf los: „Und wenn er sein Haus verloren hat und den
Muggel nach dem Weg gefragt hat?“ Alle hielten inne.
„Das ist es!“, rief Ron strahlend. Er streichelte dem kleinen Mädchen über das Haar. „Gut gemacht Kleine!
Du bist viel schlauer als Hermine, viel viel schlauer. Harry, deine Tochter hat das Rätsel gelöst!“
Hermine zog eine Augenbraue in die Höhe. „Was möglich wäre, aber unwahrscheinlich. Ein Haus verliert man nicht einfach so. Du vielleicht, Herr Weasley, aber nicht Tom Riddle.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“, warf Harry ein, den plötzlich das pure Jagdfieber gepackt hatte. Er hatte das Gefühl, als wären sie nur noch einen Millimeter von der Antwort entfernt, aber noch immer entzog sie sich ihren suchenden Fingern. Gerade, wenn sie zupacken wollten entglitt sie ihnen. „Die Gaunts waren die direkten Nachkommen von Slytherin. Sie waren fanatisch nach reinem Blut und heirateten in ihrer eigenen Verwandtschaft und ihr Geschlecht erlosch schließlich mit Tom Riddle, der keine eigenen Kinder hat.“
„Zumindest glauben wir das.“, meinte Ginny nachdenklich.
Harry fröstelte bei dem Gedanken, das Lord Voldemort Kinder haben könnten, mit den gleichen Ambitionen wie ihr Vater. „Die Gaunts sind vollkommen verarmt, also kann es durchaus sein, dass sie ein Haus, oder ähnliches verloren haben. Wir wissen zu wenig über Salazars Familie und ihre Besitztümer. Tom Riddle wusste sehr wenig über seine Verwandtschaft, kaum mehr als wir jetzt.“ Lily lächelte ihn an. Sie musste stolz sein ihren Eltern und Freunden bei der Lösung eines wichtigen Rätsels zu helfen. Harry erinnerte, wie er sich gefühlt hatte, als er im fünften Schuljahr absichtlich von allen im Dunkeln gelassen wurde, nur um ihn zu schützen. Er war sich alleine vorgekommen. Erst, wenn Wissen gefährlich werden konnte, oder sie verleiten würde eine Dummheit zu begehen würde er sie wegschicken.
„Gut, nehmen wir mal an es stimmt.“, spann Hermine den Gedanken weiter. „Was sucht Voldemort, oder seine Gefolgsleute dann.“
„Ganz einfach.“, antwortete Ron mit erhobenem Zeigefinger. „Zwei Sachen: Einen Weg zurück ins Leben. Er scheint ja noch nicht wieder richtig auf dem Damm zu sein. Zweitens: Macht.“
„Einfach aber wahr.“, murmelte Harry. Wieder tauchte das Bild von Voldemorts schemenhaftem Körper auf, leicht schimmernd. Nein, er war noch kein Teil dieser Welt. Ein Wanderer zwischen ihrer und dem Reich der Toten, das war sein Schicksal. Im Hier und Jetzt war Tom nicht mehr als ein Gast, halt ein Schatten oder Schemen seines einstigen selbst.
„Oder er sucht wieder eine Waffe, wie in Harrys fünftem Schuljahr in Hogwarts die Prophezeiung.“, sprach Ginny.
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, er ist besessen davon den Tod selber zu besiegen. Er strebt nur danach wieder in unsere Welt zurückzukehren. Dieses Ziel wird er mit allen Mitteln verfolgen, egal, wieviel es ihn oder seine Lakaien kosten wird.“ Schon während des zweiten Krieges hatte Voldemort ohne Rücksicht in den eigenen Reihen gewütet. Ihm war kein Leben teuer gewesen bis auf sein eigenes und das von Nagini, seiner Schlange, die ein Stück vom ihm in sich getragen hatte. In Voldemorts Gedanken war nur für wenig anderes Platz, außer für Voldemort.
„Wir werden herausfinden müssen, welches Geheimnis es in Salazars Vergangenheit für dessen Ergründung ein Muggel nötig ist.“, meinte Hermine, die sich nachdenklich die Nasenwurzel massierte.
„Ich sehe es vor mir.“, keuchte Ron mit vor Schrecken aufgerissenen Augen. „Das Schlafzimmer, angefüllt mit Büchertürmen, Pergamentstapeln und das ständige Rascheln von Papier...“
„Du kannst ja auf der Couch schlafen.“, erwiderte Hermine kühl.
„Lieber nicht.“, sprach ihr Mann knapp.
Der Abend setzte den Himmel in Brand. Rote Glut und entflammte Wolken leuchteten am Himmel über den Dächern von London. Mit einem letzten strahlenden Gleißen entschwand der Feuerball der Sonne und ließ eine in blutrot getauchte Welt zurück. Über Harrys Kopf funkelte auf dem herausziehenden Samttuch der Nacht die ersten Sterne auf, die mit jeder Minute Heller wurden, bis sich ein Dunstschleier langsam über das Firmament zog und mit seinem Grau die Sterne und das Feuer der Sonne im Westen löschte. Zurück blieb ein diffuses Zwielicht aus lebendigen Schatten. In den Häusern am Grimmauldplatz glommen in den Fenstern die Lichter auf, gleich funkelnden Augen in der mit schwarzen Schatten umkleideten Nacht.
„Gehen wir wieder rein, Schatz.“, rief Harry seiner Tochter zu, deren Pudelmütze aus einem Busch heraus ragte, in dem sie sich versteckte. „Das Abendessen ist sicher gleich fertig.“
Es rührte sich nichts.
„Ich weiß wo du bist!“ Er schlich sich langsam zum niedrigen Busch, dessen dichte Zweige seine Tochter verbargen. Dann erkannte er seinen Irrtum.
„Clever.“, murmelte Harry, als er Lilys leere Mütze in der Hand hielt. Sie hatte viel von Albus und James gelernt. Aber noch hatten die beiden ihr nicht alle Tricks beigebracht, um sich vor seinen Augen zu verbergen. Langsam folgte er der Spur aus aufgewühlten Blättern zu der kleinen Laube hinüber, die mit einem dichten Gestrüpp aus nun kahlen Ranken überwuchert war. Saß man im Frühling und Sommer in dem kleinen Pavillon, war man umgeben von einem wahren Meer aus duftenden Blüten. Nun wirkte er einsam und trostlos.
„Gefunden!“, rief er, als der rote Haarschopf seiner Tochter hinter einer Säule auftauchte.
Lily kroch kichernd aus ihrem Versteck. Ihr Gesicht war ganz mit Dreck verschmiert, aber unter ihrer unfreiwilligen Maske strahlte sie ihn an.
„Diesmal hab ich dich reingelegt!“, jubilierte sie und trommelte mit ihren kleinen Fäusten gegen seinen Bauch.
„Ja, aber du solltest mal mit Albus und James reden, die sind dir noch um einiges voraus.“, meinte Harry, hob seine Tochter hoch und schleppte sie wie einen ununterbrochen kichernden Sack über der Schulter zurück zum Haus.
Lily kam alles nur wie ein großes, aufregendes Spiel vor, ein spannendes Abenteuer, in dem sie eine kleine Rolle übernehmen durfte. Wer konnte es ihr verdenken? Sie war noch ein kleines Mädchen und der Ernst war ihr einfach noch nicht bewusst. Hoffentlich wird er das auch nie, dachte Harry, als er sie im Wohnzimmer absetzte. Mit einem Schlenker seines Zauberstabes verschwanden Laub und Dreck, von ihren Klamotten.
„Hey Schatz, wir sind wieder da!“, rief er auf dem Weg in die Küche.
„Schon gehört.“, kam die knappe Antwort von Ginny. Der Klang ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich ins Herz. Es fehlte der beständige fröhliche Unterton, das Lachen in ihren Worten, selbst wenn sie ärgerlich oder wütend war. Statt dessen hatte etwas düsteres diesen Platz eingenommen. Angst vielleicht. Harry machte es traurig, das selbst wenn sie lachte ihr Gesicht ernst blieb. Die letzten Tage hatten so vieles zerstört, was sie beide sich mühsam aufgebaut hatten.
„Was hast du denn feines gemacht?“, fragte Harry, schlang von hinten die Arme um den Bauch seiner Frau und küsste sie zärtlich in den Nacken.
„Ach, ich konnte mich nicht konzentrieren.“, meinte sie, drehte sich in der Umarmung um und bedeckte seine Lippen mit den ihren. „Nur eine Suppe, von der ich nicht sicher bin, ob sie schmeckt.“ Hauchte sie an sein Ohr und legte ihren Kopf auf Harrys Schulter ab.
Mutig hob er Deckel hoch und schöpfte etwas von der Brühe, die aussah wie ein misslungener Zaubertrank in Snapes Unterricht, auf einen Löffel. Die Suppe verbrühte ihm fast die Zunge, aber glücklicherweise schmeckte sie besser, als ihr Aussehen vermuten ließ.
„Geht.“, murmelte Harry, der versuchte durch scharfes einatmen seine schmerzende Zunge zu kühlen.
„Wirklich?“, fragte Ginny und blickte ihn forschend an.
„Ja, sicher besser als dein Auflauf.“
Sie versetzte ihm einen leichten Hieb in die Rippen. „Ich bin einfach nicht so gut wie meine Mutter und das weist du!“, zischte sie.
„Lily, es gibt Abendessen!“, rief Harry nach seiner Tochter, während er sich die Rippen massierte. Sofort tauchte ihr Gesicht in der Tür auf und lugte in die Küche, die Nase wie ein Reh zum Schnuppern erhoben. Geschickt fing sie den Teller aus der Luft auf, der zu ihrem Stammplatz am Tische schwebte, gefüllt mit dampfender Suppe.
„Guten Appetit!“, rief Lily glücklich, bevor sie zu Löffeln begann.
Ginny und Harry betrachteten ihre Tochter, doch hatten sie beide keinen großen Hunger. Eher lustlos schlürften sie die heiße Flüssigkeit, die leicht nach Hexenkräutern schmeckte. Zu viele Gedanken spukten in den Köpfen herum. Wenigstens schien es ihrem kleinen Mädchen zu schmecken.
Ein lautes Klopfen an der Tür gab Harry einen Grund sich von seinem Stuhl zu erheben.
„Teddy.“, sprachen er und Ginny wie aus einem Mund.
Tatsächlich war es Lupin und Tonks Sohn, der mit verschwörerischer Miene in den Flut trat. Sein glattes, blondes Haar fiel ihm hinab bis auf die Schultern. Harry würde sich nie daran gewöhnen, dass er stets mit anderen Frisuren vor der Tür stand.
„Abend Onkelchen.“, begrüßte er Harry und warf einen erwartungsvollen Blick in die Küche. Kurz huschte Enttäuschung über sein Gesicht, als er erkannte, dass es nur Suppe gab. Ginny winkte ihm zusammen mit Lily vom Tisch aus zu.
„Ted Tonks, du kommst fünf Minuten zu spät.“, meinte Harry mit einem Blick auf die Uhr.
„Tut mir ja schrecklich leid, aber es war noch viel los im Ministerium. Du weist schon, ein begehrter Jüngling wie ich...“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das von blond zu dunkelbraun wechselte. Ted wurde übergangslos wieder ernst. „Nein, ich komme im Auftrag von Metthew Crow, dem Leiter des Büros für magische Strafverfolgung.“
„Ja, ich kenne ihn, er war bei Kingsleys Ernennung gerade zum Auror ernannt worden.“, murmelte Harry. Ein schlankes, von einem buschigen Bart eingerahmtes Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Stechende fast schwarze Augen blitzten unter dünnen Augenbrauen hervor.
„Genau der.“, fuhr Ted fort und umarmte Ginny zur Begrüßung. „Er hat mir unter vorgehaltener Hand mitgeteilt, dass mehrere Todesser, aus dem innersten Kreis um Voldemort, verschwunden sind?“
„Verschwunden?“, hakte Ginny stirnrunzelnd nach.
„Ja, sie stehen nach wie vor unter Beobachtung, aber vor knapp drei Tagen hat sie niemand mehr gesehen, außer Lucius Malfoy, der sich in einem Pub in der Nokturngasse herumgetrieben hat, zusammen mit anderen ehemaligen Todessern. Das haben wir auch nur herausgefunden, weil sie einen von ihnen bei einem versuchten Einbruch in Flourish & Blotts erwischt haben. Für Straflinderung hat der Vogel dann gesungen.“
„Voldemort stellt seine Armee wieder auf.“, knurrte Harry, der sich gerade noch verkneifen konnte die Faust auf die Tischplatte knallen zu lassen. Ted hob nur Augenbrauen in Stiller Bestätigung. Lily ergriff die Hand von Harrys Patenkind und wollte ihn fortziehen, um ihn wie üblich für sich in Beschlag zu nehmen.
„Nein heute nicht Lily.“, sprach er und ging vor ihr auf die Knie, damit ihre Gesichter auf einer Höhe waren. „Dein Vater und ich müssen viel besprechen, aber bestimmt die nächsten Tage werden wir wieder zeit haben zu spielen.“
Harrys Tochter machte ein trauriges Gesicht, trollte sich dann aber und verschwand in ihr Zimmer, um alleine vor sich hin zu schmollen.
„Ein Wort von dir, und sie gibt klein bei, wie machst du das?“, fragte Ginny wieder einmal beeindruckt.
„Vielleicht, weil ich selber noch ein halbes Kind bin.“, erwiderte Ted lachend.
„Nunja, wie sieht es im Ministerium aus?“, lenkte Harry wissbegierig das Gespräch wieder auf die ursprüngliche Bahn.
„Alles geht seinen Lauf, wie schon seit Jahren. Jeder dreht sein eigenes Ding, aber trotzdem funktioniert alles irgendwie. Naja, bis auf die Mysteriumsabteilung, aber das kennt man ja.“, antwortete der junge Mann und nahm einen Löffel von Harrys Suppe. Anerkennend nickte er der Köchin zu.
„Ist jemandem etwas besonderes aufgefallen, gibt es Besonderheiten?“, hakte Harry fieberhaft nach. Es musste doch eine Spur geben. So einfach konnte niemand von den Toten auferstehen.
„Ich weiß worauf du hinaus willst, Harry.“, bremste hin Ted. „Aber wenn jemand im Ministerium etwas mit Voldemort zu schaffen hat, dann geschieht es im Verborgenen. Wenn ich etwas in Erfahrung bringe, dann wirst du es erfahren!“ Er begann wieder Suppe zu löffeln.
Harry schob ihm seinen Teller zu, bevor er sich müde auf seinen Stuhl fallen ließ. Ginny war nur stumm der Unterhaltung gefolgt. Nun glitt ihr Blick hinaus in die heraufziehende Nacht mit all ihren funkelnden Lichtern, die ihr abwechselnd zublinzelten. In seinem Geist rumorte es unablässig. In allen Ecken Englands waren die Mitglieder des Ordens auf der Suche nach Voldemort, aber bis jetzt ohne Erfolg. Was erwartete er auch? Neunzehn Jahre waren vergangen, bevor der Dunkle Lord zurückgekehrt war. In nur drei Tagen würden sie ihn wohl kaum aufspüren können. Vielleicht mussten sie die alten Pfade beschreiten, die auch er gegangen war, um an ihr Ziel zu kommen. Sie standen alle vor so vielen offenen Fragen und Rätseln. Selbst Hermine hatte nicht sagen können was es mit den Schemen auf sich hatte. Die Antworten lagen in der Vergangenheit, begraben unter Jahren des Vergessens, kaum mehr als ein Flüstern im Wind der Geschichte.
„Die Suppe war köstlich.“, sprach plötzlich Teddy, schob den Teller von sich und leckte sich über die Lippen.
„Danke.“, sagte Ginny überrascht und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
„Ich habe die Zeit damals nicht erlebt,“, begann plötzlich der junge Mann. „aber man erzählt sich auch heute noch Geschichten und die Gräber um den See in Hogwarts herum sprechen ihre eigene Sprache. Ich spüre die Angst, wenn ich mit Kingsley rede, Seamus, Dean, Hermine, Ron oder Euch. Es muss eine furchtbare Zeit gewesen sein, aber Voldemort hat noch keine Macht. Es ist so ruhig wie seit langem nicht mehr. Alles, was sich im Ministerium rührt sind die beständigen Dummheiten von uns Zauberern.“
Harry blickte sein Patenkind lange an. Ted war ein Kind gewesen das keine Angst, keinen Schrecken vor der kalten Hand von Voldemorts Todessern erfahren hatte. Dennoch reichte der Schatten noch bis in seine Zeit hinein. Es war töricht zu glauben, das er nicht die Zeichen würde deuten können.
„Vielleicht ist es zu ruhig.“, flüsterte Ginny in die Stille hinein, die Teds Worten gefolgt war. „Ich spüre irgendwie, das etwas geschehen wird, bald. Wie vor einem Gewitter, das bald losbrechen wird sich die Luft mit Strom auflädt. Was würdet ihr an Voldemorts Stelle tun? Ihr würdet eure Kräfte sammeln und den Kreis jener um euch scharen, der euch nie abgeschworen hat. Wie lange würde das dauern?“
Harry berührte unwillkürlich seinen Unterarm, an dem ein Todesser das Dunkle Mal trug.
„Nicht lange.“, sprach er. „Und nicht alle wurden nach seinem Sturz als Todesser entlarvt. Viele sind immer noch unter uns, vielleicht unsere Freunde, da sie klug genug waren sich nie zu Voldemort zu bekennen. Ist denn jemand in den letzten drei Tagen nicht zur Arbeit erschienen?“
Ted zuckte nur mit den Achseln, dachte aber kurz nach. „Nicht, das ich wüsste.“, antwortete er. „So lange arbeite ich auch noch nicht dort, um jedes Gesicht genau zu kennen.“
Harry nickte langsam. Dann war ihre einzige Chance, dass sie das Rätsel um die geheimnisvolle Urkunde lüfteten. Es durfte nicht zu lange dauern, sonst könnte diese einzige Spur wieder erkalten. Er betete darum, das Hermine wieder ihr einzigartiges Geschick im Umgang mit Literatur unter Beweis stellte. Beinahe konnte er sehen, wie sie die Nase tief hinter den ledernen Einband eines Buches steckte und mit fliegenden Augen den Inhalt nach einem Hinweis absuchte.
Er selber durchforstete seine Erinnerungen nach Bildern aus dem Leben Voldemorts, die ihnen helfen konnten. Das Waisenhaus, die Gaunts, die alte Frau. Nichts davon half ihnen, weckte aber all die schmerzhaften Erinnerungen an die verblichenen Freunde. Jetzt hätte er Dumbledore gebraucht, mit all seiner Weisheit und dem unerschöpflichen Wissen hinter den blauen Augen und der hohen Stirn.
Bei dem Gedanken begann wieder seine Narbe zu kribbeln. Zunächst schwach, dann stärker und stärker, bis wieder Zorn in ihm aufloderte, heller, alles versengender Zorn. Schmerzen durchzuckten Harrys Kopf wie eiskalte Klingen. Fröstelnd richteten sich die feinen Haare in seinem Nacken auf. Etwas ließ das Blut des Dunklen Lords kochen, bewies ihm, wie machtlos er war. Er wollte zerstören, morden, seine Wut im Blut jener löschen, die ihn enttäuscht hatten. Das Bild langer Reihen, gefüllt mit Büchern tauchte vor ihm auf, verschwamm, machte dem Boden der Küche Platz, auf dem er lag, dann Ginnys schreckensbleichem Gesicht. Wieder die lange Bücherreihe. Eine Lücke klaffte darin. Wut, Zorn, brennender Wille zur Zerstörung.
Harry kannte diesen Gang, diese Tische, die Mauer, jeden Stein.
„Hogwarts!“, schrie Harry in die Küche hinein.
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