von black_swan
Schmerz
Ein großer Koffer, der aussah, als wäre er schon mindestens einmal um die ganze Welt geschleift worden, stand mitten in dem kleinen Schlafzimmer im ersten Stock. Er war offen und über seine Ränder hingen unordentlich einige Kleidungsstücke. Der Rest des Zimmers sah allerdings so aus, als sei es seit Jahren nicht mehr genutzt worden. Es war zu sauber und zu ordentlich, als dass es noch von dem Teenager hätte bewohnt sein können, dem es einst gehört hatte. Die Fotos an den Wänden zeigten ein lachendes Mädchen, das auf jedem Bild eine andere Frisur hatte und mit seinen Freunden herumalberte. Fröhlich winkten sie in die Kamera.
Zwielicht herrschte in dem kleinen Raum, denn es war Herbst und bereits so früh am Abend hatte die Dämmerung eingesetzt.
Eine junge Frau mit herzförmigem Gesichtstand hinter dem Vorhang und lugte hinaus. Wenn man genau hinsah, konnte man in ihr das Mädchen von den Fotos erkennen.
Direkt vor dem Gartentor standen zwei ältere Frauen, die eifrig miteinander tuschelten und immer wieder verstohlen zum Haus hinüber linsten. Die eine, die den lilafarbenen Umhang trug, warf jetzt den Kopf mit einem Lachen zurück, das sie bis in ihr altes Kinderzimmer hören konnte.
Tonks riss das Fenster auf. „Verschwindet ihr alten Sabberhexen, sonst jage ich euch einen Fluch auf den Hals!“, kreischte sie außer sich vor Zorn.
Die alten Frauen fuhren zusammen und machten sich eilends davon, nicht ohne ihr noch einen gehässigen Blick zuzuwerfen.
Kaum waren sie ihrem Blickfeld entschwunden, sank die junge Frau wieder in sich zusammen. Ihre flammendroten Haare verloren an Farbe und waren rasch wieder so mausbraun wie zuvor. Tonks ließ sich auf einen Stuhl fallen, der hinter ihr stand.
Sie hatte ja gewusst, dass die Leute reden würden, sie hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde, aber sie war sich sicher gewesen, so sicher, dass sie es gemeinsam schaffen würden. Mit Remus, so hatte sie geglaubt, würde sie alles schaffen. Und jetzt war er fort.
Die Tür des winzigen Schlafzimmers öffnete sich einen Spalt weit und ihre Mutter Andromeda schob den Kopf herein. „Hast du gerufen? Kann ich dir irgendetwas bringen?“
Tonks schüttelte wortlos den Kopf und wandte sich wieder dem Fenster zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihre Mutter Anstalten machte, das Zimmer zu betreten. Doch Andromeda blieb stehen und sagte nur: „Ich habe die beiden Alten auch gesehen. Lass es dir nicht noch schwerer machen. Das ist jetzt nicht gut für dich.“ Sie schenkte ihrer Tochter ein ebenso liebevolles wie trauriges Lächeln und zog sich wieder zurück.
Tonks’ Hand krampfte sich um ihren Bauch. Wie viel schwerer konnte sie es sich denn noch machen? War es denn nicht schon schwer genug, auch ohne hasserfüllte alte Weiber, die sich ihre Schandmäuler über sie zerrissen?
Wie schon so oft in den vergangenen Tagen, kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Abend vor einer knappen Woche und verbissen sich darin, während sie weiter aus dem Fenster starrte, ohne irgendetwas wahrzunehmen.
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