von black_swan
Kapitel 3: Wehe Stunde
Das Sonnenlicht schien durch ihre Augenlider hindurch und färbte alles rot. Für einen Moment wagte Lavender zu hoffen, dass alles nur ein Alptraum gewesen sein könnte, doch dann wehte eine Wolke Blutduft an ihr vorbei. Außerdem fühlte ihre Haut sich wund an, ach was, ihr ganzer Körper, jede einzelne Zelle fühlte sich zerschunden an. Lavender stöhnte leise. Sie ahnte, dass sie während der Verwandlung wohl ihr Bewusstsein verloren haben musste, denn sie konnte sich nur noch an die limonengrünen Wände erinnern – und an den Schmerz… Sie stöhnte erneut.
Eine kühle Hand legte sich auf ihre Stirn. Lavender riss die Augen auf und fuhr in ihrem Bett hoch, was ihr Rücken mit einem wütenden Stechen quittierte. Dabei rutschte die Hand von ihrer Stirn. Sie blickte in das Gesicht von Lycan Crump, der noch steifer als bei seinem letzten Besuch auf dem Metallstuhl hockte. Er sah auch bleicher aus. Ein frischer, tiefer Kratzer überzog seine rechte Wange und seine Augen schienen sich tiefer in ihre Höhlen zurückgezogen zu haben. Während Lavender wortlos seine zerwühlten Haare betrachtete, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie einen ebenso unerfreulichen Anblick bot, aber sie wagte nicht, nach ihrem Gesicht zu tasten.
Lycan war es schließlich, der das Schweigen brach, das zwischen ihnen hing. „Für einen ersten Vollmond hast du recht wenig abgekriegt.“ Seine Stimme klang kehlig wie ein Knurren. Als hätte er den Wolf noch nicht ganz abgeschüttelt. „Sei froh, dass du hier warst und nicht irgendwo draußen.“
Lavender versuchte ein Lächeln. Es sah noch gequälter aus als geplant, da die linke Hälfte ihres Mundes eingerissen zu sein schien. Sie schmeckte Blut.
„Schön wars trotzdem nicht, was?“ Lycan grinste freudlos. Fast erwartete Lavender ein Raubtiergebiss vor sich zu sehen, doch Lycans Lippen enthüllten ganz gewöhnliche Menschenzähne. Mit einer gewissen Erleichterung schüttelte sie den Kopf. Und bereute es gleich darauf wieder, denn das Knirschen ihrer Halswirbel zeigte unmissverständlich, dass ihr Körper sich vor allem eines wünschte: völlige Bewegungslosigkeit. Sie war Lycan dankbar, dass er nicht weiter fragte.
„Was machst du eigentlich hier?“, wollte sie wissen und bemerkte, dass das ziemlich pampig klang. „Ich meine…“ Ja, was meinte sie denn? Wieso bist du wieder gekommen, nachdem ich das letzte Mal so zickig gewesen bin und mich jetzt kein bisschen besser benehme? Genau das wunderte sie nämlich ein bisschen. „Ich meine“, setzte sie noch einmal an, „ich freue mich, dass du wieder da bist.“ Vorsichtig schielte sie in sein Gesicht. War das jetzt zu viel des Guten gewesen, bei dem Versuch, nicht allzu zickig zu sein?
Aber Lycans Stimme klang nicht anders als vorher, als er ihr antwortete: „Unser erstes Gespräch ist nicht so gelaufen, wie ich das geplant hatte und ich dachte mir, nach deinem ersten Vollmond brauchst du vielleicht noch eher Unterstützung.“
Lavender lächelte ihn, so gut das eben ging, an. „Danke.“
„Das ist mein Job“, entgegnete Lycan ruhig.
Etwas in Lavenders Bauch verkrampfte sich schmerzhaft. Sie war für ihn wohl nur eine Nummer auf einer Liste, die er abzuhaken hatte? Und sie hatte sich wirklich Mühe gegeben nett zu ihm zu sein!
„Aber ich mache ihn gerne“, fügte der junge Werwolf noch hinzu und dieses Mal erreichte sein Lächeln sogar seine Augen. „Also wenn ich irgendwas für dich tun kann… Muss nicht mal was mit unserem Fell zu tun haben, okay? Lass es mich einfach wissen.“ Er tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn und erhob sich, merkbar schwerfällig, als habe auch sein Rücken etwas gegen Bewegungen. Wie ein alter Mann stand er da, ein wenig gebückt und drehte ihr ganz langsam den Rücken zu.
In diesem Moment sah Lavender die Zeitung. Sie war vom Bett gerutscht und lag etwas zerknittert halb darunter. Wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, dachte sie gerade, als in ihrem Gehirn eine Barriere einzubrechen schien, hinter der die Erinnerung an Parvati eingeschlossen gewesen war. Während des Gesprächs mit Lycan hatte sich diese Erinnerung still verhalten und keinen Mucks von sich gegeben, aber jetzt brach sie mit aller Gewalt über Lavender herein.
„Meine Freundin ist tot.“
Ihre Worte ließen ihn innehalten. Mit heiserer, halb erstickter Stimme hatte Lavender sie hervorgestoßen. Schwerfällig drehte Lycan sich erneut um und schleppte sich zurück zu ihrem Bett. Mit einem leisen Stöhnen setzte er sich neben Lavender, die vor Schluchzern bebte. Die Wort auszusprechen hatte sich angefühlt, als sei ihre beste Freundin nun endgültig von ihr gegangen.
Sie bemerkte Lycans Rückkehr erst wieder, als er ihr den Arm um die Schulter legte und sie an sich zog. Den Kopf an seiner Schulter weinte sie, wie es ihr vorkam eine halbe Ewigkeit. Seine Jacke war dreckig und roch nach nassem Hund, aber es ging dennoch etwas tröstliches von ihr aus. Er sagte kein einziges Wort, doch gerade sein Schweigen war es, das Lavender schließlich dabei half ihren Entschluss zu fassen: Sie musste ihr neues Leben annehmen. Ohne Parvati und mit einem Wolf im Hinterkopf. Der Gedanke machte ihr Angst, große Angst sogar, aber sie wusste, dass sie nicht alleine war. Sie hob den Kopf von Lycans Jacke und fragte: „Was macht ihr bei Wolfstraum denn so…?“
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