von black_swan
1. Kapitel: Der Fette Mönch
Die dunkelblauen Kulleraugen der Erstklässlerin starrten den Fetten Mönch unverwandt an. Ihr rosafarbenes Gesicht war von Fett des Hähnchenschlegels verschmiert, an dem sie mit vollen Backen kaute. Die blonden Rattenschwänzchen links und rechts ihres Kopfes wippten rhythmisch mit.
„Ich heiße Hannah“, nuschelte die Kleine um das Hähnchen herum. „Und wie heißt du?“
„Ich bin der Fette Mönch, euer Hausgeist.“ Es war immer so nett, sich mit den kleinen Hufflepuffs zu unterhalten. Darauf freute er sich jedes Jahr aufs neue.
Hannah schluckte mit deutlichen Schwierigkeiten herunter. „Warum bist du ein Geist?“, fragte sie mit schiefgelegtem Kopf.
Der Fette Mönch antwortete das, was er immer antwortete, wenn einer der jüngeren Schüler ihn danach fragte - er war nicht der Meinung, dass man ihnen düstere Geschichten über panische Angst vor dem Jenseits erzählen sollte. So etwas erschien ihm nicht kindgerecht. „Weißt du, als ich gestorben bin, war ich sehr traurig, dass ich Hogwarts verlassen sollte - und deshalb bin ich als Geist hierher zurückgekommen. Ich habe nämlich hier in Hufflepuff gelebt, weißt du?“
Die meisten Kinder fragten jetzt, was er hier zu Lebzeiten getan hatte und er erzählte gerne davon. Es war ein gutes Leben gewesen, voller gemütlicher Stunden und viel gutem Essen - wie man an seinem kugelrunden, perlweißen Bauch sehen konnte. Der Fette Mönch konnte viele gute Geschichten erzählen, jawohl, er war der geborene Geschichtenerzähler. Darauf war er auch ganz besonders stolz.
Aber anscheinend wollte Hannah keine nette Geschichte über das alte Hogwarts hören, über prasselnde Kaminfeuer und grandiose Feiern. Statt dessen fragte sie mit einem weiteren Bissen, der viel zu groß für ihren kleinen Mund zu sein schien: „Wie bist du denn gestorben, Fetter Mönch?“
Er zögerte. „Nun ja… es war ein Festessen zum Beginn des neuen Schuljahrs, so wie heute.“
Hannah nickte zum Zeichen, dass sie zuhörte. Ihre blauen Augen schienen noch runder geworden zu sein.
„Jedenfalls hatte ich an diesem Tag ganz besonders großen Hunger und ich habe mir den Teller mit allem vollgepackt, was auf der ganzen langen Tafel zu finden war.“ Mit seligem Lächeln erinnerte er sich an all die guten Speisen zurück, die da aufgereiht gestanden waren. Alle Arten von Braten, die man sich vorstellen mochte, jede Beilage, die sich erträumen ließ und noch eine ganze Menge mehr. Das Lächeln verblasste allerdings, als er daran dachte, was dann passiert war. „Ich hatte es so eilig, dass ich gleichzeitig aus meinem Kelch mit Kürbissaft getrunken und einen Hähnchenschlegel verspeist habe. Dabei habe ich mich verschluckt und - nun ja, jetzt bin ich ein Geist.“
Hannahs Hand war auf halben Weg zu ihrem Kelch erstarrt. Der Rest des Hähnchens erzitterte in ihrer anderen Hand, bevor sie mit einem sanften platsch in den Teller fiel, von dem heiße Soße aufspritzte. Ihr vorhin so rosiges Gesicht wirkte mit einem Mal reichlich blass. Verstört starrte sie in das Gesicht des Geistes, das babyblau statt perlweiß war und im Fetten Mönch regte sich das schlechte Gewissen. Ob er dem armen Mädchen jetzt für alle Zeit das Hähnchenessen verdorben hatte?
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