von black_swan
Die Graue Dame
Gedankenverloren schwebte die Graue Dame durch das nächtliche Schloss. Der Vollmond warf sein schimmerndes Licht durch die hohen Fensterscheiben und aus dem Verbotenen Wald drang das Heulen wilder Tiere an ihr Ohr. Doch beidem schenkte sie keine Beachtung. Ihre Gedanken kreisten wie immer um jenen Gegenstand, der ihr zum Verhängnis geworden war und obwohl sie ja streng genommen keinen Körper mehr hatte, fühlte sie doch ganz genau, dass es ihr Herz war, das ihr solche Qualen bereitete. Sie seufzte, ein leises, flatterndes Geräusch, das von den schweren Wandbehängen verschluckt wurde.
Die Graue Dame glitt durch eine Tür aus groben Holzbohlen und erstarrte mitten in der Luft, als hätte sich die nebelartige Substanz ihres Leibes mit einem Mal verfestigt.
Nur wenige Meter vor ihr schwebte der Blutige Baron. So viele Jahrhunderte lang hatte sie sich in Hogwarts vor ihm versteckt und jetzt war er plötzlich so nah. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, doch als ihr ein erschrockener Laut entfuhr, wandte er sich ihr zu und sie starrte mit weit aufgerissenen Augen in sein ausgemergeltes Gesicht. In seinen tiefen Augenhöhlen glomm ein unheimliches Licht. Auch ohne hinzuschauen wusste sie, dass sein Umhang über und über mit silbernen Blutflecken besudelt war. Schließlich war es zu einem guten Teil ihr Blut…
„Helena…“, krächzte der Baron mit seiner hohlen, stets heiseren Stimme und streckte die Hand nach ihr aus. Die Ketten an seinem Handgelenk klirrten unheilverkündend.
Mit einem schrillen Schrei schoss die Graue Dame zurück durch die Tür und den Gang entlang durch den sie gekommen war. Hinter sich glaubte sie, die Ketten des Blutigen Barons klirren zu hören und wechselte viele Male willkürlich zwischen Räumen und Stockwerken hin und her. Wäre sie nicht schon tot gewesen, hätte sie sich bei dieser wilden Flucht sicher mehr als nur einmal den Hals gebrochen.
Erst als sie nach Stunden ihr Versteck erreicht hatte, einen dunklen Wandschrank hoch oben im Astronomieturm, hielt sie inne. Doch ihre Gedanken ließen sich nicht anhalten. Was immer sie auch versuchte, um sie auszusperren, de konnte die Erinnerung an jenen Tag vor so langer Zeit nicht unterdrücken…
Sie floh durch den Wald. Kleine Zweige peitschten ihr ins Gesicht und hinterließen rote Striemen auf der blassen Haut. Dornige Ranken griffen nach ihrem Kleid, als wollten sie sie aufhalten. Ihre Füße stolperten und rutschten auf dem unebenen Boden, der von dicken Wurzeln überwuchert war.
Mit beiden Händen hielt sie das Diadem ihrer Mutter fest an ihre Brust gepresst. Das Diadem, das sie, Helena Ravenclaw, gestohlen hatte. Neid und Geltungssucht hatten sie dazu getrieben - und schließlich hierher geführt, in einen Wald in Albanien, mitten im Nirgendwo. Doch er hatte sie aufgespürt. Weit hinter sich hörte sie ihn durch den Wald brechen. Ja, sie wusste genau wer sie da verfolgte, sie hatte einen Blick auf den Baron erhaschen können. Er würde das Diadem nicht bekommen, niemals! Helena rannte weiter.
Plötzlich sah sie den Baum vor sich. Er stand ein wenig abseits von den anderen, als hätten die übrigen Bäume Angst davor, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Sein Stamm war geborsten und verkohlt. Offensichtlich hatte ein Blitz in ihn eingeschlagen. Sie stürmte darauf zu und blickte in das gewaltige Loch, das der Blitz in den Stamm gerissen hatte. Schwarz und tief schien es sie einladend anzugrinsen. Das ideale Versteck für das Diadem. Ohne noch länger zu zögern, streckte Helena ihren Arm mitsamt dem Diadem in den Schlund des Baumstumpfes. Als sie bis zur Schulter darin steckte, ließ sie los. Ein leises Klingen ertönte, als das Diadem unten aufschlug. Jetzt konnte Helena sich selbst in Sicherheit bringen. Nur wie? Ihren Zauberstab hatte sie schon ganz zu Anfang der Hatz verloren, als sie über eine besonders heimtückische Wurzel gestolpert war. Sich selbst konnte sie also nicht damit schützen, geschweigedenn das Diadem.
Alles was sie tun konnte, war weiterzulaufen, obwohl ihre Füße bei jedem Schritt schmerzten und sie kaum noch Luft bekam und jeder Atemzug in ihrer Lunge brannte.
Der Gedanke kam plötzlich, glasklar zerschnitt er ihr Bewusstsein. Sie würde es nicht schaffen, ihn abzuschütteln. Nicht umsonst wurde der Baron von seinen Gegnern auch „Bluthund“ genannt. Er gab niemals auf, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Alles worauf sie hoffen konnte, war, ihn weit genug vom Diadem ihrer Mutter fortzulocken, bevor er sie einholte.
Mittlerweile wankte sie mehr als dass sie rannte. Ihr Blickfeld wurde von seltsamen Schlieren durchzogen und verschwamm völlig. Hinter sich hörte sie das Rascheln und Knacken immer näher kommen.
Schließlich war es so weit. Als sie die sonnenüberflutete Lichtung betrat, wusste sie, dass sie keinen Schritt weiter gehen konnte. Irgendwo zwitscherte ein kleiner Vogel sein fröhliches Lied, ohne sich im Geringsten um die junge Hexe zu kümmern, die sich mit wild klopfendem Herzen und zitternden Händen ihrem Verfolger zuwandte, der soeben aus dem Wald trat.
Schön war er nicht, der Baron, der vor so lang erscheinender Zeit um sie geworben hatte, Doch seine eisblauen Augen und die kantigen Gesichtszüge hatten sie dazu verleitet, eine Zeit lang auf sein Werben einzugehen. Wie wütend er doch geworden war, als sie ihm schließlich gesagt hatte, dass eine Heirat für sie nicht in Frage kommen würde. Und die selbe Wut glomm auch jetzt in seinen Augen.
„Habt Ihr nun endlich eingesehen, dass eine Flucht Euch nichts nützen wird, Lady Helena?“ Seine Stimme klang hart und die Drohung darin war unüberhörbar.
„Ihr werdet niemals das Diadem bekommen, Baron!“, gab Helena mutiger zurück als sie sich tatsächlich fühlte.
Die Worte flogen hin und her. Immer weniger ging es bei dem Streit um das Diadem, als um seinen verletzten Stolz. Der Baron versuchte immer wieder sich ihr zu nähern, doch für jeden Schritt, den er auf sie zuging, wich sie einen zurück. Solange, bis ihr Rücken gegen die raue Borke eines uralten Baums stieß.
„Du wirst mir gehören!“, zischte der Baron und überbrückte die verbliebene Distanz mit wenigen schnellen Schritten. Er stand jetzt direkt vor ihr, so nah, dass sie kaum atmen konnte, ohne dass ihre Brust die seine berührte. Der Baron hob seine rechte Hand und strich ihr unsanft über die Wange. Mit böse glitzernden Augen näherte sich sein Gesicht dem ihren. Sie spie ihm ins Gesicht, bevor er sie küssen konnte.
Und plötzlich war da dieser Schmerz in ihrer Brust und das Messer, das immer und immer wieder hineingerammt wurde. Blut, das vom hellen Stoff ihres Kleides aufgesaugt wurde. Und dann alles verschlingende Schwärze…
In ihrem Versteck im Wandschrank wimmerte die Graue Dame. Hätte sie nur niemals nach dem Diadem gegriffen, als es unbeaufsichtigt im Zimmer ihrer Mutter gelegen hatte!
Und hätte sie nur genügend Mut gehabt, wirklich zu sterben! Doch ihre panische Angst vor einer wie auch immer gearteten Bestrafung im Tod und ihr Stolz, der es auch schon verhindert hatte, dass sie das Diadem zurückgab, hatten sie als Geist zurückkehren lassen. Den ewigen Frieden hatte sie so gegen immer währende Schuldgefühle und unvergängliche Angst vor dem Baron, den alle nur noch den „Blutigen“ nannten, eingetauscht…
Ja, ich hab euch ja gewarnt, dass es düster werden würde... Ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen...^^
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