
von S_ACD
Vor meinem TOD werd ich's noch fertig kriegen. Grrr...
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Die Behauptung, dass Bill Charlie um den Hals fällt wie eine jungfräuliche Braut ihrem Verlobten, der soeben von den Kreuzzügen heimgekehrt ist – noch einigermaßen heil und ganz, und nur mit ein paar unbedeutenden Gliedmaßen weniger – mag ja vielleicht etwas übertrieben sein. Etwas. Eine winzige Spur.
Dass sie mit ihrem Spektakel die Eingangstür blockieren, und somit Lance und Traian daran hindern, sich in die rettende Wärme des Hauses zu flüchten, fällt ihnen im ersten Moment gar nicht auf.
„Seh sich einer das an“, sagt George ebenso unbeeindruckt wie gedämpft, „Man könnte direkt zu dem Schluss kommen, er hätte sich Sorgen gemacht.“
„Aaach“, ich winke ab, „Du spinnst doch. Übrigens, denkst du er...?“ ...wird sauer sein?
Natürlich sage ich das nicht laut, weil Bill sich keine dreieinhalb Meter entfernt befindet – obwohl er im Augenblick vollauf damit beschäftigt ist, Charlie auf Armlänge von sich zu halten und ihn anzugrinsen wie ein Gestörter, was dieser offensichtlich amüsiert über sich ergehen lässt.
Wenn man es genau nimmt hat unser Ältester ja eigentlich keinen Grund dazu, sauer auf uns zu sein, weil wir ihm (und allen anderen auch) die ganze Rumänien-Rettungsmission verschwiegen haben. Technisch gesehen haben wir, was diese Aktion betrifft, nämlich nicht gelogen, sondern bloß einiger nicht ganz unbedeutender Details verschwiegen. Da die Leute diesem Punkt allerdings oft viel weniger Beachtung schenken, als ihm gebührt, könnte es durchaus sein, dass Bill ziemlich wütend auf uns ist.
Weshalb es wirklich keinen Grund gibt, ihn jetzt während dieses glücklichen Wiedersehens daran zu erinnern. Oder ihn überhaupt auf irgendwelche Ideen zu bringen.
„Was, auf uns?“, fragt George unschuldig, „Wenn ja, wäre das sehr ungerecht.“
„Wahrhaftig“, pflichte ich ihm bei, „Wahrlich wahnsinnig.“
„Warum nur, oh werter Fred“, seufzt George mit der unendlichen Geduld eines greisen Mentors, „Warum nur hängen bei dir die Nahtoderfahrungen und der Drang zu Alliterationen immer zusammen?“
Und gut, auf diese Frage hin bleibt mir doch eigentlich gar nichts anderes übrig, als es zumindest zu versuchen.
„Wie, warum? Wirklich? Wisse, weshalb werden wohl wieder, äh... wallende Wolkengebilde wandelnden Wissens... warnenden, uhm... Wassers...“, ich breche ab. „Verdammt.“
„Heh“, sagt George, „Meinst du nicht eher werdammt?“
Für diese billige Pointe müsste ich ihm unseren eigenen, ganz persönlichen Richtlinien zufolge eigentlich eine reinhauen. Wir haben ja schließlich unsere Standards. Aber so wie die Dinge momentan stehen muss er mir immer noch aus meinem Umhang helfen, und seinem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen ist ihm das auch vollkommen klar.
„Nur damit du's weißt“, sage ich anstelle der körperlichen Gewalt, die an diesem Punkt eigentlich angebracht wäre, finster, „Es ist mehr als sieben Jahre her, seit ich mich das letzte Mal dermaßen für dich schämen musste.“
George macht den Mund auf, zweifellos um mir eine großzügige Auswahl von Gelegenheiten zu unterbreiten, bei denen man sich eigentlich noch viel mehr für ihn hätte schämen müssen und von denen gut die Hälfte komplett erfunden sein wird, aber er wird dadurch unterbrochen, dass Bill und Charlie ihren Moment brüderlicher Rührseligkeit nun abgeschlossen zu haben scheinen.
Abgesehen davon registriere ich, dass sich der ganze Rest inzwischen vollzählig ins Vorzimmer gequetscht und irgendjemand gnädigerweise die Tür zugemacht hat.
„Mehr als sieben Jahre?“, fragt Bill stirnrunzelnd, „Was?“
„Och, nichts“, sagt George gleichgültig, „Vergesst es. Fred redet bloß Schwachsinn, wahrscheinlich hat er wegen dem Drachengift Halluzinationen.“
„Drachengift“, sagt Bill, „Welches Drachengift?“, in exakt derselben Sekunden, in der Charlie „Das ist nicht witzig.“ knurrt.
„Es ist ein bisschen witzig“, räume ich ein, „Aber du hast Recht. Georgie, das war wirklich taktlos von dir-“
„Man tut was man kann.“
Bill reibt sich die Nasenwurzel. „Okay, alles von vorne“, sagt er. Offenbar ist er nicht sauer – sein resignierter Gesichtsausdruck ist nahe dran an dem, den Dad immer bekommt, wenn Mum ihn dazu zwingt, irgendeinen Muggelgegenstand für das Abendessen im Stich zu lassen, „Drachengift. Warum?“
Mein Zwillingsbruder winkt lässig ab.
„Ach“, sagt er „Fred hat sich die Schulter piercen lassen. Keine große Sache.“
(Der letzte Teil ist natürlich eine Lüge – ich weiß, dass er vermutlich den ganzen restlichen Abend abwechselnd damit verbringen wird, mich zu bemuttern und sich über mich lustig zu machen. Aber das gehört zu den Dingen, die Bill nicht unbedingt wissen muss.)
„Jahh“, pflichte ich ihm deshalb bei, „Ich hab gehört, dass das jetzt in Mode kommt.“
„In Mode“, wiederholt Bill skeptisch, während Charlie neben ihm einfach seufzend die Hände in die Seiten stemmt – so nebeneinander wirken sie beinahe wie ein grotesker Abklatsch unserer Eltern. Aus George halb belustigter, halb entsetzter Miene, die er fast augenblicklich wieder im Griff hat, kann ich schließen, dass er eben genau denselben Gedanken hatte.
„Möglicherweise wurde ich fehlinformiert“, räume ich ein.
„Man kann sich heutzutage ja auf nichts mehr verlassen“, fügt George hinzu.
Bill wendet sich wortlos Charlie zu.
„Ohh doch“, sagt der leise, „Jedes Wort davon wahr, zumindest was den Drachen angeht. Du hast ja keine Ahnung...“
„Mir geht’s übrigens gut“, sage ich fröhlich, „Danke der Nachfrage.“
Dem Augenrollen zufolge, das mir diese Aussage einbringt, könnte man fast meinen, dass es sich dabei um etwas Negatives handelt.
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Charlies Heimkommen wird dann doch noch gebührend gefeiert (der Großteil der Belegschaft war bei unserer Rückkehr außer Haus, anscheinend um Lebensmittel zu besorgen), was nichts anderes bedeutet, als dass wir uns allesamt volllaufen lassen.
Bill bekommt die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende zu hören, und wird nur einmal kurz ungehalten, als Ophelia erwähnt, wann genau wir die erste Eule mit unseren Besuchsabsichten nach Rumänien geschickt haben.
„Ich verstehe ja, warum ihr Mum und Dad nicht miteinbeziehen wolltet“, sagt er, „Aber mal im Ernst, hättet ihr mir nicht wenigstens Bescheid sagen können?“
„Ähm...“, macht George, weil wir Bill selbstverständlich nicht auf die Nase binden werden, dass einer unserer Hauptbeweggründe dafür seine absolut offensichtliche Schuldgefühle waren, als großer Bruder versagt zu haben, weshalb wir zu dem Schluss gekommen sind, ihn nicht auch noch in diese Sache hier mit hineinzuziehen. Er hatte ohnehin schon genug auf dem Teller. „Also... ups?“
Alles in allem ist das eine ziemlich inadäquate Antwort, was vermutlich daran liegt, dass er bereits um vier Gläser selbstgebrannten Muggel-Pflaumenschnaps mehr intus hat als ich – auf Charlies Drängen hin musste sich Ophelia vorhin erst noch meine Schulter ansehen, nur um ihm anschließend zu versichern, dass sein Heilzauber vollkommen ausreichend war und alles in bester Ordnung ist.
„Jaah“, ergänze ich rasch, „Ups. Und außerdem, wenn ich mich richtig erinnern hast du doch einen riesigen Aufstand gemacht, weil du nicht frei bekommen hast?“
„Ganz genau“, sagt George triumphierend, obwohl mir eindeutig klar ist, dass ihm dieses Detail noch vor einer Sekunde komplett entfallen war; aber solange sich wenigstens einer von uns beiden rechtzeitig an solche Dinge erinnert, ist alles im grünen Bereich.
„Ohhh“, macht Lance, der rein gar nichts verträgt und deshalb auch schon sanft von links nach rechts schwankt, wenn er versucht, gerade zu sitzen, „Hassssu e'wa ge- gekündigt...?“
Der Blick, den Charlie unserem Ältesten zuwirft, besagt eindeutig, Sag jetzt bitte nicht, dass er richtig liegt.
„Nahh“, sagt Bill. Ihm ist das Thema sichtlich unangenehm. „Ich hab einfach.... äh. Ich, ich hab Kingsley um einen Gefallen gebeten, okay?“
Mehr scheint er dazu nicht sagen zu wollen – dabei wird’s doch hier erst richtig interessant.
Ophelia grinst (sie schüttet den Alkohol schon die ganze Zeit weg wie Wasser), schenkt ihm nach, und George und ich fassen uns gleichzeitig ans Herz.
„Nützt er doch glatt seine privaten Verbindungen zu hohen Tieren im Ministerium aus, um sich persönliche Vorteile zu sichern.“
„Wir sind so stolz auf dich, Bill.“
„So. Stolz.“
„Haltet die Klappe“, sagt Charlie gutmütig, während ich so tue, als würde ich mir meine feuchten Augen abtupfen. Er lässt seine Hand auf Bills Schulter fallen. „Ich weiß das jedenfalls zu schätzen.“
„So überflüssig das Theater letztendlich auch war“, murmelt Bill, schmunzelt dann aber. Ich glaube, im Grunde ist er einfach irrsinnig erleichtert, dass Charlie in einem Stück wieder aufgetaucht ist.
Wie sich herausgestellt hat, war die ganze Sache nur ein ziemlich großes, ziemlich dämliches... nun, Missverständnis ist wahrscheinlich das falsche Wort. Charlie ist nämlich (genau wie meine Wenigkeit) durch Hazels Wohnungsdecke gekracht, aber um einiges unglücklicher gelandet als ich, was ihm ein paar gebrochene Rippen und eine ordentliche Gehirnerschütterung eingebracht hat. Anscheinend sind Hazels Erste-Hilfe-Künste in etwa so toll wie die von George und mir, denn es hat vier Tage gedauert, bis Charlie wieder einigermaßen fit war.
Dummerweise hielt es Hazel nicht für nötig, diese vier verlorenen Tage zu erwähnen, was Charlie Terminplan total über den Haufen warf, weil er dachte, er hätte alle Zeit der Welt, um nach diesem Vieh Noberta zu sehen, während der Rest der Welt dachte, er wäre kläglich in den Wäldern verendet.
Der Abend wird dann übrigens noch recht unterhaltsam.
Fleury hat sich in sein Gästezimmer (das diesen Namen höchstwahrscheinlich viel eher verdient als unsere Dachbodenkämmerchen) verabschiedet, kaum dass Traian die Schnapsflaschen hervorgekramt hat. Sicher ist jedenfalls, dass morgen sowohl uns als auch Charlie, der ja immer noch dafür zuständig ist, Fleury dazu zu überreden den Laden hier in irgendeiner Form zu sponsern, ein ziemlich ungutes Gespräch bevorsteht. Vermutlich wäre das ein Grund dafür, heute nüchtern zu bleiben... aber ernsthaft, scheiß drauf.
„Cheers“, ruft Lance irgendwann gut gelaunt und versucht, mit Charlie anzustoßen, ohne zu bemerken, dass sein eigenes Glas leer ist.
„Uufff“, schnauft George, dem sein Vorsprung nicht besonders gut getan hat, neben mir, „Bruderherz, ich seh's jetzt schon kommen... du wirst morgen das Kommando übernehmen müssen.“
Und ein paar Stühle weiter ist Bill, dessen Französisch in den letzten paar Jahren offensichtlich ein Level erreicht hat, von dem wir bisher keine Ahnung hatten, gerade vollauf damit beschäftigt, schmutzige Witze mit den Belgiern auszutauschen. Soweit ich verstehen kann, antwortet er auf die Frage, woher er das alles habe, mit stolzgeschwellter Brust „ma femme“, was ja wohl wieder mal eindeutig beweist, dass unsere Familie im Großen und Ganzen doch ziemlich klasse ist.
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Die feuchte Kälte, die in unserer Dachkammer praktisch aus den Wände kriecht, ist diesmal weitaus weniger problematisch, weil ich zu viel Alkohol im Blut habe, um sie richtig zu spüren.
George fällt mit dem Gesicht nach vorne auf die Matratze, kaum dass wir das Zimmer betreten haben, und bewegt sich nicht mehr. Meine Wenigkeit ist nicht ganz so erschöpft, aber auch ich bin zu faul, um Licht zu machen, weshalb es rundherum zappenduster bleibt.
„Hey“, sage ich und stupse ihn mit einem Fuß an, „Nicht sterben, klar?“
Er murmelt irgendetwas in die Decke, das verdächtig nach „Du kannst mich...“ klingt, wälzt sich dann aber herum – zumindest schließe ich das aus den raschelnden Geräuschen und meiner lebenslanger Erfahrung.
„Wie geht’s deiner Schulter?“
War ja klar.
„Soweit ganz gu- oh. Ooohhh nein!“ Ich gebe mir Mühe, die begleitende Mimik überzeugend hinzubekommen, obwohl das in dieser Dunkelheit vergebliche Liebesmühe ist – aber entweder man macht solche Sachen richtig oder gar nicht. „Sie ist weg!“
Besonders viel Sinn macht diese Behauptung nicht, das gebe ich gerne zu, aber wir sind beide betrunken (George, mein im Moment recht nutzloses Gegenstück, noch um einiges mehr als ich) und ziemlich müde. Da werden die Unterhaltungen meistens etwas seltsam, selbst für unsere Verhältnisse.
„Oohh nein“, äfft George mich nach. „Ehrlich, könntest du bitte aufhören, ständig irgendwelche deiner Körperteile zu verlegen? Das w-wird...“, er unterbricht sich und gähnt herzhaft, „...schön langsam anstrengend.“
„Und du hast behauptet, du würdest mich bei meiner Zombie-Karriere unterstützen, was auch immer da kommen möge“, sage ich empört, „Schöner Beistand ist das.“
„Sorry“, murmelt George, der eindeutig kurz davorsteht, einzuschlafen, „...Wahrheit muss ans Licht.“
„Ich bin zutiefst verletzt.“
„...auch noch zutiefst.“
„Kümmert dich kein bisschen, was?“
Es ist zu finster, um sein Gesicht zu sehen, aber ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass der selbstzufriedene Ausdruck wieder da ist.
„Nope.“
„Ich will die Scheidung.“
„...als ob du als Zombie irgendwelche Rechte hättest.“
Es ist offensichtlich, dass er einfach nur mehr Wörter aneinanderreiht, um irgendetwas von sich zu geben. Mir kommt der Gedanke, dass wir (oder wenigstens ich, weil ich im Augenblick besser dazu geeignet bin) uns wenigstens die Schuhe ausziehen sollten, bevor wir beide wegpennen, aber... urgh. Ich habe absolut keine Lust, mich zu bewegen.
„...hey“, nuschelt George undeutlich, „...mal'm ernst, was is' m'deiner Schulter?“
„Hatten wir das nicht grade?“
Er macht eine rudernde Bewegung – zweifellos, um mir eine zu verpassen – aber entweder ist er bereits zu hinüber, um ordentlich zu zielen, oder er gibt mittendrin auf. Persönlich tippe ich auf letzteres, und auf jeden Fall geht der Versuch kläglich daneben.
„Alles okay“, sage ich ehrlich, weil mir tief drinnen klar ist, dass er das ein letztes Mal bestätigt haben muss, „Schlaf, bevor du dich hier weiterhin blamierst.“
Seine äußerst detaillierte Erklärung, wohin genau ich mit meinen guten Ratschlägen verschwinden kann, bricht nach der Hälfte ab, weil er endgültig weggedämmert ist. Ich setzte mich im im Tempo eines alten Mannes auf, seufze, und mache mich daran, unser Schuhwerk zu entfernen.
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Da das Schicksal es zur Abwechslung einmal gut mit uns meint, wirkt Fleury am nächsten Morgen so verpeilt und unausgeschlafen, als wäre er derjenige, der die vergangene Nacht mit intensivem Alkoholkonsum verbracht hat.
Man kann wohl getrost davon ausgehen, dass er weder die hiesigen Temperaturen noch seine Schlafgelegenheit besonders gut verkraftet hat. Oder wir waren ihm in unserer Feierlaune einfach zu laut. George jedenfalls scheint bei dem Anblick von jemandem, der noch mitleiderregender dran ist als er, gleich um einiges munterer zu werden.
Sollte mich nicht überraschen. Das Elend anderer Leute fanden wir schon immer lustig.
„Guten Morgen“, sage ich gut gelaunt und wedle mit meiner Tasse vor Fleurys Nase herum, „Können wir Ihnen was anbieten? Tee? Kaffee? Die alkoholischen Reste von gestern vielleicht?“
Er lässt sich missmutig auf einen der gegenüberliegenden Stühle fallen und bleibt mir die Antwort schuldig.
„Schon einen Blick aus dem Fenster geworfen?“, meldet sich George zu Wort, dem man in keiner Weise anmerkt, dass das der erste zusammenhängende Satz ist, den er heute von sich gegeben hat. „Wunderschön verschneites Wetter, wirklich. Weltuntergang vom feinsten.“
Während sich Fleury mit gesenktem Kopf seine traurige Entschuldigung eines Frühstücks zusammenklaubt, erkläre ich meinem Zwillingsbruder lautlos: „Schön, dich wieder in der Welt der Lebenden begrüßen zu dürfen“. Er seufzt abgrundtief.
„Also“, beginnt Fleury, als er endlich alles beisammen hat, „Ich denke, es ist auch in Ihrem, ah, Interesse, wenn ich gleich zur Sache komme.“
Es dauert einige lange Sekunden, bis uns klar wird, dass das keine rhetorische Frage war.
„Absolut“, sagen wir gleichzeitig.
Fleury nickt langsam und ich überlege, ob es nicht doch besser gewesen wäre, gleich mit einer langen, detaillierten Rede unsererseits loszulegen. Die Strategie besteht ihm Moment nämlich in etwa darin, uns kurz anzuhören, was er zu sagen hat und dann entschieden abzulehnen.
„Sie wollen nicht verkaufen“, stellt Fleury fest, und ich mache mich halb gefasst darauf, das wieder beantworten zu müssen, aber er redet gleich weiter. „Das ist, ah, bedauerlich, um das Mindeste zu sagen, aber ich… nun.“ Er räuspert sich gehaltvoll. „Ich habe gelernt, aus dem das Beste zu machen, was ich habe.“ Aus den Augenwinkeln registriere ich, dass mein Zwillingsbruder eine halbgegessene Scheibe Toast hochhebt, sie dann nach kurzem Überlegen aber doch wieder zurück auf den Teller fallenlässt. Anscheinend hat er sich wieder daran erinnert, dass ihm eigentlich schlecht ist.
„Okay“, sage ich, weil ich keine Lust habe, den ganzen Vormittag hier zu sitzen, und registriere, wie Fleury kaum merklich die Schultern strafft, „Was heißt das jetzt konkret?“
„Nun“, wiederholt Fleury, „Wenn Ihr Entschluss, nicht zu verkaufen wirklich, ah, wirklich feststeht…?“
Wieder ist das keine rein rhetorische Frage, aber so wie’s aussieht, sind wir darauf inzwischen ganz gut eingestellt.
„Steht fest“, sagt George sofort.
„Felsenfest“, ergänze ich.
„Wenig überraschend“, murmelt Fleury so leise, dass er genauso mit sich selber reden könnte, und fährt dann etwas lauter fort, „Und meiner, ah, meiner Meinung nach ist das weit entfernt davon, die, ah, klügste Entscheidung zu sein, die sie an dieser Stelle treffen könnten, aber… nun gut.“
Und dann schenkt er sich Tee nach und macht doch glatt den allerbesten Vorschlag, der mir in den letzten paar Monaten zu Ohren gekommen ist.
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„Hab ich grade halluziniert?“, fragt George, nachdem wir das Feld für Charlie und seine Sponsoren-Besprechung geräumt haben – Fleury wird sein Frühstück heute wirklich auf epische Längen ausdehnen müssen. „Ich wette, du hast mich im Alkoholkoma zurückgelassen, und das echte Gespräch findet gerade irgendwo ohne mich statt.“
„Also bitte“, sage ich milde, „Du weißt genau, dass ich dich nicht einfach sturzbetrunken irgendwo liegenlassen würde… die Versuchung wäre viel zu groß, dich in den Schnee hinauszurollen.“
„Stets um meine Gesundheit besorgt, wie ich sehe“, sagt George grinsend. „Aber ernsthaft, dass er…“, er zeigt mit dem Daumen über seine Schulter, „…unser Zeug in seinen Vertrieb aufnehmen will, hätte ich wirklich nicht erwartet.“
„Nicht unser ganzes Zeug“, verbessere ich ihn, „Nur einen gewissen Teil von unserem Zeug. Produktreihen. Hast du nicht zugehört?“
„Musst du immer alles besser wissen?“, sagt er künstlich entrüstet, und bei aller Liebe, darauf kann ich wirklich nur eine einzige mögliche Antwort geben.
„Natürlich muss ich das. Einer von uns beiden hat schließlich dafür zu sorgen, dass wir nicht Pleite gehen.“
„Pleite gehen?“, er grinst schon wieder, „Und ich soll grad eben nicht zugehört haben, ja? Pleite, meine Fresse. Wir werden richtig reich.“
„Tjahh“, sage ich gedehnt, aber ich kann das Grinsen auf meinem Gesicht auch nicht verhindern. Immerhin waren die letzten Tage verhältnismäßig düster, und wir haben uns diesen Silberstreifen am Horizont redlich verdient – vor allem, wenn das Silber in Form von haufenweise Sickeln daherkommt. „Irgendwas muss man ja werden.“
„Lässt sich wohl nicht verhindern“, sagt George, „Das Leben verläuft nun einmal in linearen Bahnen.“
„Merlin, Merlin“, sage ich so unamüsiert wie möglich, was alles andere als einfach ist, und lasse mich von ihm zur Treppe ziehen, „Bevor du hier mit dem Hobbyphilosophieren anfängst, könntest du doch einfach wieder in deinen alkoholinduzierten Zombiezustand verfallen.“
„Vielleicht später“, sagt er gutgelaunt, „ Jetzt haben wir einen Bruder, dem es auf den Zahn zu füllen gilt.“
„Ausreden, ausschließlich abartige Ausreden!“
„Der Drang zu Alliterationen ist wieder da, was?“
„Aber absolut.“
Er seufzt abgrundtief. „Musste ja so kommen.“
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Wie sich herausstellt ist Bill, unser großartiger, göttlicher, genialer Bruder, nicht nur mit einem Portschlüssel angerückt, sondern hat auch seine Rückreise auf diese wunderbare Art zu reisen geplant. („Na ja“, sagt er, so als wäre das die natürlichste Sache, die man sich nur vorstellen könnte, was sie ja auch ist, nur war uns bisher nicht klar, dass ihm das auch bewusst ist, „Wenn man schon den Zaubereiminister um eine Gefälligkeiten anbetteln muss, kann man es auch gleich richtig machen.“)
„Du großer, großer Mann, ich möchte dich umarmen“, sagt George, den sein angeschlagener Zustand eindeutig sentimental macht, „Umarmen und nie wieder loslassen. Fleur hat doch sicher nichts dagegen oder?“
Bill verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich hätte was dagegen“, sagt er belustigt, „Also danke, aber nein danke.“
„Abgesehen davon“, werfe ich ein, „…dass ich nach den ersten paar Wochen irgendwann furchtbar eifersüchtig werden müsste. Und dann müssten wir uns duellieren, und das kann einfach nur in Tränen enden.“
„Ich würde an dieser Stelle ja beteuern, dass ich so viel Aufregung gar nicht wert bin“, sagt George zufrieden, „Aber das wäre glatt gelogen.“
„Und lügen soll man ja bekanntlich nicht“, sage ich ernst.
„Wie war das von wegen, man tut immer gut daran, seinen eigenen Rat zu befolgen?“, fragt Bill. Dafür, dass er gestern noch eifrig dabei war, Schnaps wegzukippen, nachdem wir uns längst ins Bett verzogen haben, sieht er erstaunlich fit aus. Auch das dichte Schneegestöber direkt vor der Haustür scheint seiner Stimmung kein bisschen zuzusetzen.
„Ohh“, sage ich ehrfürchtig, „Der weise große Bruder offenbart sein Wissen.“
„Und lässt uns geistig arme Schlucker gnädig daran teilhaben“, fügt George hinzu, „Nein, aber im Ernst, wir können mit deinem Portschlüssel zurück in die Heimat? Kein Witz?“
„Falls der weise große Bruder seine Meinung innerhalb der nächsten zwei Stunden nicht ändert, dann nein, kein Witz“, sagt Bill. „Charlie kommt übrigens auch gleich mit. Er hat wegen Mum ein ziemlich schlechtes Gewissen.“
Kann man sich vorstellen. Ich bin kurz davor vorzuschlagen, dass sich unsere bescheidene Runde dann mal auflöst, um ihr Zeug für die Heimreise zusammenzusuchen – George und ich zumindest, keine Ahnung, ob Bill überhaupt ausgepackt hat – als Bill eine Hand hebt.
„Moment“, sagt er, „Eines noch. Ich hab euch doch erzählt, dass Percy Briefe aus Südamerika kriegt, oder?“
Ich kann förmlich sehen, wie George den Reflex, auf der Stelle abzustreiten, jemals irgendetwas in diese Richtung gehört zu haben, innerhalb eines Sekundenbruchteils unterdrückt. Er muss wirklich verkatert sein, wenn er an einen derartigen Anfängerfehler auch nur denkt. Bill fällt das glücklicherweise nicht auf; er sieht uns weiterhin abwartend an.
„Ja natürlich“, sage ich beflissen und hake dann so harmlos wie möglich nach. „Wieso?“
„Weil“, sagt Bill und sein Tonfall ist mir noch bestens bekannt aus unseren jüngeren Jugendjahren. Die Mischung aus Neugier und Resignation besagt in etwa: Ich habe noch nicht vollkommen ausgeschlossen, dass ihr mit dieser Sache etwas zu tun habt, aber meinetwegen – nehmen wir eben vorerst einmal an, dass ihr unbeteiligt seid.
„Weil ich jetzt ebenfalls einen bekommen habe“
„Ähm“, macht George, „Also… Glückwunsch?“
Bill schnaubt und fährt fort damit, uns abwartend anzusehen.
Ich neige mich zu George hinüber und flüstere laut: „Ich habe keine Ahnung, welche emotionale Reaktion er sich jetzt erwartet.“
„Ich auch nicht“, flüstert George genauso laut zurück, „Am besten, du lachst und ich breche in Tränen aus...?“
„Merlin noch mal“, sagt Bill und verdreht genervt die Augen.
„Was denn?“, sage ich wieder in normaler Zimmerlautstärke, „Wenn du drauf bestehst können wir‘s auch umgekehrt machen.“
Doch Bill geht nicht mehr darauf ein. „Wer ist Antonio José?“, fragt er streng, „Und warum erkundigt er sich per Eule bei mir, wie es Percy geht und ob er noch in Schwierigkeiten steckt?“
„Weil…“, sagt George gedehnt, „Keine Ahnung, vielleicht ist er ein fürsorglicher Mensch?“
„Mh-hmm“, macht Bill gedehnt, und es ist glasklar, dass er uns – egal wie gut wir eine eventuelle Erklärung jetzt hinbekommen werden – mit großer Wahrscheinlichkeit kein Wort abkaufen wird.
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