von ~Cassiopeia~
7. Der lange Weg
Die Tage vergingen.
Draco nahm täglich Tränke von Madam Pomfrey ein, in der Hoffnung, dass sie helfen würden, seine Sehkraft wieder herzustellen. Sie konnten nur hoffen, dass die Schwellung im Gehirn nicht zu dramatisch war.
Ein Anfang jedenfalls war gemacht. Draco konnte mehr erkennen, als noch zwei Wochen zuvor. Damals hatte er kaum unterscheiden können, ob es hell oder dunkel war. Jetzt wusste er immerhin, ob er sich in einem hellen oder einem dunklen Raum befand, was einen enormen Fortschritt bedeutete und eine große Erleichterung mit sich brachte.
Dazu hatten sich seine sonstigen Sinne, wie etwa Hören und Hautempfindlichkeit, der Situation angepasst und an Intensität zugenommen. So nahm er oft Geräusche oder Gefühle wahr, die ihm früher gar nicht bewusst waren, wie etwa ein Windhauch, wenn jemand die Tür öffnete, oder die unterschiedlichen Stimmen der Schüler in der großen Halle.
Auch hatte man eine, wenn auch anstrengende, Lösung für das Lernen gefunden: die Bücher wurden so verzaubert, dass sie ihren Inhalt vorlasen. Manche in einer recht schleppenden Stimme, bei der Draco jedes mal beinahe einschlief und manche so schnell und überdreht, dass er sie bitten musste, einen Absatz mehrmals zu wiederholen.
Oft kam er sich dabei mehr als bescheuert vor, mit Büchern zu reden, doch er sah ein, dass es seine einzige Möglichkeit war, wollte halbwegs mit den anderen Schritt halten.
Das Zaubern wurde ihm jedoch untersagt. Zu gefährlich war es, dass er sein Ziel verfehlte und andere dabei verletzte. Oder sich selbst.
Blaise hingegen hatte jetzt den Job seines Lebens: Draco Malfoy beschützen.
Es verging kein Tag, beinahe keine Stunde, wo dieser nicht angegriffen wurde, verbal oder direkt durch Flüche.
Er versuchte, ihn so gut wie möglich davor zu bewahren, doch was sollte er tun? Eine Schallmauer um sie herum errichten?
Er merkte, wie Draco an seiner Seite immer kleiner, unsicherer zu werden schien. Die jahrelang trainierte Maske bröckelte, hielt dem Druck nicht mehr stand. Doch was sie preisgab, erschütterte Blaise bis ins Mark.
Nicht selten weinte Draco sich in den Schlaf, nicht ahnend, dass Blaise es sehr wohl mit bekam.
Tagsüber wurde er immer zurück haltender, sprach kaum noch. Ließ sich wie eine Marionette von einer Stunde zur nächsten schleifen, aß kaum noch.
Des nachts wachte er schreiend aus Alpträumen auf, von denen Blaise nicht wusste, ob er sich am nächsten Morgen an sie erinnerte, oder nicht.
Doch Draco erinnerte sich sehr wohl an seine Träume, nicht alles waren Alpträume. Viele handelten von Ginny, er betete, dass sein bester Freund davon nichts mit bekam.
Er dachte ständig an sie, hatte ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Haare vor Augen. Sie war so wunderschön… er vermisste es, sie nicht sehen zu können, liefen sie sich doch nicht gerade häufig über den Weg.
Dabei waren das die seltenen Gelegenheiten gewesen, ihr überhaupt nahe zu sein. Wie sollte er das jetzt anstellen?!
Eines Tages, Draco war einmal mehr von einigen Gryffindors als ?Blindschleiche' betitelt worden, beschloss Blaise, dass es genug war. Irgendwie musste er den Blonden aus seiner Depression holen, verdammt!
Dieser lag auf seinem Bett, das Gesicht zur Wand.
Blaise ging langsam auf das Bett zu, doch er wusste, dass Draco ihn bemerkt haben musste. Trotzdem zuckte er unter der Berührung am Arm zusammen, als Blaise ihm sachte eine Hand darauf legte.
„Draco?“, fragte er vorsichtig. Er hatte keine wirkliche Ahnung, wie das Gespräch verlaufen würde. Aber er hoffte, dass er danach ein klein wenig Klarheit hatte.
„Lass mich, Zabini“, war alles, was Draco von sich gab, die Stimme leicht knurrend.
„Nein, ich lass dich nicht. Ich will wissen - wissen, was mit dir los ist, Draco. Du-“
„Was mit mir los ist? Hast du mal die Augen auf gemacht? Verdammt Blaise, weißt du, was da draußen vor sich geht? Wo ich hinkomme, werde ich beleidigt, verflucht, lächerlich gemacht. Ich bin blind, verflucht noch Mal! Aber das scheint in dieser Gott verdammten Schule keinen zu interessieren. Sie wissen ja nicht, wie es ist, wenn man -“ Doch er unterbrach sich, schluckte den Rest des Satzes hinunter.
„Wenn man was, Draco?“, fragte Blaise leise, beobachtete die Gesichtszüge des Blonden, der sich inzwischen zu ihm gedreht hatte. Diese schienen nun so viel mehr zu verraten, so viele Emotionen hatte Draco wahrscheinlich sein ganzes Leben nicht gezeigt wie in den letzten Tagen. Doch war ihm das bewusst? Sicherlich nicht, sonst würde er es sofort unterlassen. Doch die visuelle Kontrolle fehlte ihm, so fiel nach und nach die kalte, undurchdringliche Maske von ihm ab.
„Wenn man abhängig ist von anderen. Wehrlos. Was kann ich denn schon groß allein machen? Weder essen, noch anziehen, noch alleine laufen kann ich, will ich nicht irgendwo gegen laufen. Merlin, Blaise, du kennst mich! Das bin nicht ich! Aber anders hätte der Gehirnamputierte Rest da draußen wohl schon längst Hackfleisch aus mir gemacht… Danke.“
Blaise horchte alarmiert auf. Draco hatte sich bei ihm bedankt? Draco Malfoy? Er kannte dieses Wort?! Ein wenig musste er schmunzeln.
„Was?!“, kam es sofort von dem Blonden.
„Hihi… entschuldige Draco, aber du hast soeben… Danke gesagt. Kenn ich gar nicht von dir“.
Das ließ Draco nur schnauben, was Blaise noch mehr grinsen ließ, vor allem als er sah, dass Dracos Mundwinkel sich minimal nach oben zogen.
„Solltest du öfters tun“, sagte er, noch immer grinsend.
„Was?“
„Lächeln. Es steht dir. Aber keine Angst, ich verrat es auch keinem!“
Draco griff unter seinen Kopf und schleuderte das Kissen in die Richtung von Blaise, welches dieser mit einem empörten „Hey!“ quittierte.
„Komm, wir sollten zum Essen gehen, ich hab Hunger“, sagte Blaise und erhob sich vom Bett.
Auch Draco setzte sich auf. „Ähm, Blaise? Kann ich… äh… allein gehen? Also, ich will… ich will nur wissen, ob ich den Weg schaffe?“
Blaise strahlte ihn an und gab ihm seinen Taststock. „Ich bin hinter dir, wenn du mich brauchst, bleib einfach stehen.“
Draco antwortete nichts, sondern öffnete bereits die Tür.
Zunächst musste er das Portrait finden. Es war rechts von ihm, das wusste er. Nur wie weit rechts? Vorsichtig tastete er sich voran. Da, an der Wand neben ihm, stand das lange Bücherregal. Links von ihm müsste das Sofa kommen, mit der Lehne zu ihm. Er streckte den Arm aus, ging ein, zwei Schritte und fand es tatsächlich. Innerlich jubelte er. Die ersten Schritte waren geschafft.
Wieso war er nicht schon viel eher darauf gekommen? Aber nein, er war in Mitleid versunken. Sicher, es war wohl in erster Linie der Schock gewesen, die Angst, die ihn davon abhielten, etwas zu unternehmen. Stattdessen hatte er sich an Blaise geklammert.
Doch nun stand er am Ende des Sofas, traute sich nicht weiter. Blaise beobachtete ihn skeptisch, sagte jedoch noch nichts. Draco schien gespannt zu überlegen, in welche Richtung er sich jetzt wenden musste, um zu Portrait zu gelangen. Im Grunde war es nur gerade aus, doch wenn man genau hinsah, sah man, dass man, wenn wie Draco, an der Rückseite des Sofas stand, einen kleinen Linksbogen gehen musste, den man jedoch als Sehender kaum bewusst wahrnahm.
Mutig steuerte Draco die gegenüberliegende Wand an, zählte innerlich die Schritte. Wie oft war er diesen Weg schon im Dunkeln gegangen, doch Schemen hatte er immer noch erkennen können. Aber jetzt? Er sah, dass es hell war im Zimmer, das war aber auch alles. Keine Konturen, an denen er sich orientieren konnte.
Sein Stock stieß auf ein Hindernis, er musste angekommen sein. Er schritt nach vorne, berührte mit der Hand die Wand.
Und nun? Rechts oder links? Er war sich plötzlich seiner Raumkenntnis gar nicht mehr so sicher.
„Blaise? Wo… muss ich jetzt hin?“ Hilflos streckte er die Hände zu beide Seiten, in der Hoffnung mit einer von ihnen das Portrait zu erfühlen.
„Noch ein Stückchen nach Links, Draco“, kam die Anweisung. Draco tat wie geheißen und tastete sich schrittweise nach Links, die Hände stets an der Wand.
Da! Er fühlte die Ecke in der Wand und kurz darauf den rauen Stoff unter seinen Fingern, die Rückseite des Portraits, welches den Ein - und Ausgang zu ihrem Gemeinschaftsraum bildete.
Er lehnte sich ein wenig nach vorne, um es zu öffnen - als er plötzlich fiel.
„Mann Malfoy, kannst du nicht gucken?“, schnauzte ihn Goyle an. „Oh, ich vergaß - der große Draco Malfoy ist zu einem Maulwurf mutiert. Wie peinlich!“
Wut schnaubend rappelte Draco sich wieder hoch, er stand nun auf dem Flur.
„Goyle, ich warne dich -“, hörte er Blaise zischen.
„Blaise - lass es, ja? Komm, gehen wir, ich habe Hunger.“
Demonstrativ drehte er sich um, ging in Richtung Große Halle.
Er hatte keine Lust und Kraft, sich in einen Streit mit Goyle verwickeln zu lassen. Dieser Bastard hatte sich einst sein Freund genannt!
Wieder schlug sein Stock gegen etwas Hartes. Draco streckte die Hände aus, fühlte jedoch nur Stein. Er musste gegen die gegenüberliegende Wand gestoßen sein. Also gut, weiter.
Ein Glück waren die meisten Schüler schon beim Essen, sodass sich nur wenige auf den Gängen befanden. Diejenigen, die Dracos Weg kreuzten, gingen ihm jedoch erstaunlicherweise aus dem Weg.
Nach einem ellenlangen Zickzackkurs, so erschien es Draco, kam er plötzlich am Ende der Treppe an, die hoch zur Halle führte. Er hatte Blaises Hilfe nur einmal gebraucht, als er beinahe falsch abgebogen wäre, eine Ecke zu früh als eigentlich notwendig.
Hilflos blieb er stehen. Wie sollte er den Weg durch die Halle schaffen? Sein Tisch lag ganz am anderen Ende des Raumes!
Er merkte, wie Panik in ihm aufkam, der Schweiß brach ihm aus. Er meinte, die brennenden Blicke der anderen Schüler zu spüren, die nur auf ihn warteten, um ihn… seine Hand klammerte sich an dem Türrahmen fest.
Er merkte, wie eine Person sich von vorne näherte.
Er hatte sie erkannt, bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte.
„Keine Panik Malfoy, du schaffst das“, sagte sie zu ihm.
„Gi… Weasley?“, fragte er verblüfft, er hätte nie damit gerechnet, dass sie ihn ansprach. Fast hätte er sich verraten, sie war immer noch Weasley für ihn!
„Soll ich… dich hinführen?“, fragte Ginny leise, als sie seinen panischen Gesichtsausdruck sah. Hatte sie ihn jemals so gesehen? Sicher nicht. Ein Malfoy hatte keine Angst. Doch etwas an ihm brachte sie dazu, seinen Arm zu nehmen und ihn, ganz ruhig, zu seinem Tisch zu
führen.
Fast alle Blicke waren auf das ungleiche Paar gerichtet, das da durch die Halle schritt. Es war ziemlich still geworden, eine Tatsache, die sowohl Ginny, als auch Draco, leichte Röte ins Gesicht trieb.
„Äh… hast du… ich mein… wo willst du sitzen?“, fragte Ginny mit leicht kratziger Stimme. War es eben auch schon so warm hier drinnen gewesen?
„Ich… ähm, nein, nicht wirklich. Irgendwo, wo möglichst keiner der Idioten sitzt und wo… na ja, wo Platz für zwei ist.“ Oh je… nervös biss er sich auf die Unterlippe. Was hatte er denn da schon wieder fabriziert?! Platz für zwei? Sie musste doch jetzt denken - wie peinlich!
„Ist schon gut, Weasley, ich übernehme, danke“, hörte er Blaises' Stimme plötzlich hinter sich.
„Ja, danke“, flüsterte Draco, beinahe unhörbar.
„Gern geschehen“, wisperte Ginny zurück, ihre Wangen schienen zu glühen.
Mit einem Grinsen, dass sie sich selbst nicht richtig erklären konnte, ging sie wieder durch die Halle. Der Lärm hatte wieder zu genommen, die anderen Schüler wandten sich wieder ihren Gesprächen zu.
War das gerade… der wirkliche Draco gewesen, den sie dort an der Hand durch die Halle geführt hatte?
Es war, als könne sie noch immer die Wärme, die von ihm ausging, spüren. Sein Körper direkt an ihrem, ihre Arme verschränkt.
„Ginny? Was bei Merlin war das?!“, fragte seine scharfe Stimme hinter ihr, die sie zusammen fahren ließ.
„Harry!“, stieß sie erschrocken aus.
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